Christiane F. – Die Kinder vom Bahnhof Zoo

Nachdem ich vor vielleicht zwanzig Jahren, als ich noch TV geguckt habe, mal in "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" reingezappt hatte, fand ich an der Zeit, den Film jetzt nochmal anzusehen. Ich hatte nicht erwartet, dass der so "reinknallen" würde. "Schockierend" trifft es meiner Meinung nach nicht.

Ich wollte die Hintergründe kennen.

04 Mai 2005

Zusammenfassung zum Blog

"Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" habe ich kürzlich als Film gesehen. Er hat mich ziemlich aufgewühlt und eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die ich beantwortet haben wollte. Hintergrundwissen.

Eine Woche lang habe ich recherchiert. Die Ergebnisse habe ich hier verdichtet zusammengefasst. Jede meiner Angaben habe ich durch Verweise ins Web belegt. Wenige Seiten bieten passende Ankerpunkte. Daher habe ich den Links meistens einen Hinweis hinzugefügt, wo man die gemeinte Stelle auf der referenzierten Seite finden kann. (Der Hinweis erscheint bei den populären Browsern, wenn man mit der Maus auf den Link geht, ohne ihn anzuklicken.)

An manchen Stellen habe ich zusätzliche Hinweise untergebracht. Diese Stellen sind gepunktet unterstrichen, und die Hinweise verhalten sich genauso wie die bei den Links.


Die Geschichte der Christiane F. habe ich chronologisch nachgezeichnet. Jede einzelne Station ist mittels der Navigationsliste "chronologisch" (im Randbalken, rechts) erreichbar.

Einige von diesem Blog aus verlinkte Seiten sind auf englisch. Die rechts angegebenen "Hilfsmittel" unterstützen beim Übersetzen, und der interaktive Stadtplan bei der Orientierung in Berlin. Ein RSS-Feed ist verfügbar, aber vermutlich witzlos, da ich diese Site als abgeschlossen betrachte.


Weitere Seiten, die außerhalb der Chronologie liegen, sind: "Christiane Vera Felscherinow – Die Kinder vom Bahnhof Zoo" — "Der 'Modus', in den der Film den Zuschauer versetzt, ist nicht 'schockierend'" — "Sichere und vermutete Konzessionen der Geschichte an den Film" — "Das Buch als PDF" — " "unveröffentlichte Photos aus der damaligen Reportage"" — "Fragen, die der Film aufwirft".

03 Mai 2005

Die Verstörung des Films überwinden

Die Verstörung, die der Film verursacht, hat sich bei mir gelöst, als mir fühlbar wurde, dass es sich bei der im Film gezeigten Christiane um einen Avatar handelt. Beeindruckend wurde der Film insbesondere dadurch, dass ich "wusste", dass "alles, was im Film gezeigt wird, wahr ist". Aber meine Recherchen haben mir gezeigt, dass dieses stillschweigend akzeptierte Hintergrundwissen trügerisch, falsch ist. Die Interviews mit
Natja Brunckhorst haben einen anderen Menschen zutage treten lassen, als den im Film dargestellten. Das hat mich dazu veranlasst, zu differenzieren zu beginnen zwischen der Film-Christiane – die so spielt, dass man sich mit ihr identifizieren kann –, der wirklichen Christiane Felscherinow und der wirklichen Natja Brunckhorst.

Ich notiere dies hier – möglicherweise kann ich dadurch anderen Hilfestellung leisten, von dem "Schock" des Films wieder loszukommen.

02 Mai 2005

Ende des verfilmten Zeitraums – und wie es weiterging

Aufgrund ihres Verstoßes gegen das "Betäubungsmittelgesetz wird Anklage gegen Christiane erhoben. Im Urteil werden ihre eigenen Bemühungen um Entzug positiv bewertet, so dass die "Entscheidung, ob Jugendstrafe zu verhängen ist, [...] zur Bewährung ausgesetzt" wird. Ihre Mutter bringt sie in den Westen. Dort bleibt sie bis sie im Prozess gegen einen Geschäftsmann, der sich Kinder mit Heroin gefügig gemacht hat, als Zeugin nach Berlin geladen wird.

Dort trifft sie auf zunächst einen Mitarbeiter des Stern und den Fotografen Jürgen Müller-Schneck. Der Journalist möchte Recherchen über Straßenkinder ergänzen. Er fragt Christiane, ob sie etwas zur Kinderprostitution in Berlin zu sagen habe. Sie antwortet mit einem festen: "Und ob!"

Beide, Journalist und Fotograf, vereinbaren mit Christiane ein Interview, in dem sie ihre bereits vorhandenen Recherche-Ergebnisse ergänzen wollen. – Immer wieder erwähnt wird, dass das Gespräch auf zwei Stunden angesetzt war, dass sich daraus aber Gespräche entwickelten, die sich über zwei Monate erstreckt haben (jeweils montags bis freitags). (Möglicherweise aufgrund eines Übersetzungsfehlers ist in diversen Web-Quellen die Rede von zwölf statt zwei Monaten, sowie – diese Phrase "zwölf Monate" zusammenfassend – von einem Jahr.)


Die Gespräche wurden auf Tonband aufgenommen. Daraus ist eine im Stern erschienene Reportage entstanden. Daraus ist das Buch entstanden, das unter dem Verfasser-Namen "Christiane F." erschienen ist. Der Name wurde dabei vermutlich deswegen auf "Christiane F." gekürzt, um Christiane vor Öffentlichkeit und Presse zu schützen. (Ich vermute, dass dieses Kürzel nicht als Name des Verfassers wahrgenommen wurde, sondern als Teil des Titels, und auf diese Weise Teil des Film-Titels geworden ist.) – Der Schutz gegen die Öffentlichkeit hat allerdings nicht lange bestanden, da Christiane von der Filmproduktion zu Werbezwecken eingesetzt wurde.

Auf Basis der Tonband-Protokolle und des Buches entstand ein Theaterstück, das in Moers aufgeführt werden sollte. (Dort bekamen die Verantwortlichen aber kalte Füße und sagten die Aufführung ab.) Das Theaterstück diente möglicherweise als Vorlage für den Film. – Vergleicht man den Inhalt des Buches mit dem des Filmes, so fällt auf, wie reich der Film an Konzessionen ist. Beachtet man zusätzlich, dass Christiane nicht mit dem Film zufrieden war, tauchen Zweifel daran auf, ob das Theaterstück – das (vgl. oben) Vorlage für den Film war – tatsächlich von Christiane verfasst worden ist, oder ob nicht auch dort Ghostwriter am Werk waren.

Der Film erschien 1981. Am 2. April 1981 hatte er in Wiesbaden und Aachen Premiere. Bereits Wochen vorher wurde er auf Plakaten angekündigt; die beiden damals einzigen deutschlandweit (West-D.) empfangbaren Fernsehsendern Tage vor der Premiere hochgepusht.

Für den Film wurden um die 2 000 Menschen gecastet. Für die Hauptrollen wurden schließlich Natja Brunkhorst und Thomas Haustein ausgewählt. Außer in "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" wird Natjas Nachname – soweit ich gesehen habe – überall mit "ck" geschrieben.) Möglicherweise liegt hier eine Namensänderung zugrunde oder im Film schlicht ein Schreibfehler vor. Anlass für eine solche Namensänderung mag gewesen sein, dass Natja Brunkhorst nach der Film-Premiere nicht mit dem Presserummel klargekommen ist: Sie hat die Schule mit 16 verlassen und ist nach England gegangen.)

Natja Brunckhorst hat nach "Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" noch in weiteren Filmen mitgespielt. Thomas Haustein ist von der Bildfläche verschwunden. Über Jens Kuphal ("Axel") ist bekannt, dass er bei den Hansa-Studios in Berlin als Plattenproduzent arbeitet.

Was aus den übrigen Mitgliedern von Christianes damaliger Clique geworden ist, habe ich nicht recherchiert.

Frau Felscherinow wohnt wieder in Berlin. Auf der Straße laufen ihr mitunter Jugendgruppen hinterher und skandieren "Christiane, Christiane". Manchmal klingeln Jugendliche bei ihr und fragen sie, ob all das in "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" wahr sei.


Der Kinderstrich am Bahnhof Zoo existiert immer noch. Bahnchef Hartmut Mehdorn kündigte im Jahr 2001 ein an, der Bahnhofsmission die Essensausgabe zu verbieten: Diese Essensausgabe locke Obdachlose und Drogenabhängige in den Bahnhof. – Ob dies allerdings der Hauptgrund dafür ist, dass der Bahnhof Zoo (für die – aus Sicht der Bahn – zu verdrängende Gruppe) attraktiv ist, erscheint mir jedoch zweifelhaft: Möglicherweise ist der Ort per se anlockend, denn auch Ende der 70er-Jahre war er "gut bevölkert". – Gab es da etwa eine solche Küche?

Auch die Popularität des Buches "Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" dürfte den Bahnhof attraktiv machen: Touristen kommen nach Berlin, um die Orte auf sich wirken zu lassen (PDF), an denen Christiane damals war. Kurz nach Erscheinen des Filmes löste – zumindest bei einigen Schulklassen – die "Christiane-F."-Route die "Mauer"-Route ab.

01 Mai 2005

Sichere und vermutete Konzessionen der Geschichte an den Film

Dass Christiane und Detlef in Axels Bett gezeigt werden, halte ich für ein Zugeständnis an den Film: Möglicherweise waren die Lichtverhältnisse dort besser als in dem ursprünglich als Detlefs eingeführten Raum. Ähnliches denke ich mir in Bezug darauf, dass die Betten stets gemacht und teilweise sogar frisch bezogen waren.


Ob Alexander ("Atze"), Axel und Babsi tatsächlich in dieser Reihenfolge gestorben sind, erscheint mir fraglich, denn diese Reihenfolge deutet eher auf ein filmisches Stilmittel hin: Atze ist Bekannter dritten Grades von Christiane; Axel ist Bekannter zweiten Grades (Christiane kennt ihn über Detlef); Babsi ist Bekannte ersten Grades (Christianes Freundin). (Christiane wäre Bekannte "nullten" Grades, also sie selbst.)

Dass erst ein Bekannter dritten Grades, dann zweiten, dann ersten Grades stirbt – drei – zwei – eins – und Christiane daraus den Schluss zieht, sich nun selbst "zu verabschieden" – null –, wirkt auf mich unecht; daher halte ich für möglich, dass diese Reihenfolge nachträglich von dem/für den Film festgesetzt wurde.


Die Körperstelle, die Christiane für den "Goldenen Schuss" wählt, mag für sie selbst von großer Bedeutung sein – das Ende des tätowierten "Fragezeichens", das sie sich nach Detlefs Vorbild gemacht hat –, doch wirkt auf mich sehr merkwürdig, dass die Stelle für den "Goldenen Schuss" ausgerechnet – wie im Film gezeigt – auf der Hand sein soll – zumal dort überhaupt keine Ader zu sehen ist, die sie verwenden könnte.

Dass sich das Tattoo im Film auf der Hand befindet, ist vermutlich ebenfalls eine Konzession an den Film. In Wirklichkeit befindet sich die Tätowierung an anderer Stelle: Auf Fotos von Christiane (!), die nach dem Film entstanden sind (1981 oder 1982), kann man das Mal ganz gut auf halber Unterarm-Höhe erkennen.

gesammelte Links

Dies ist eine Zusammenstellung von Links, die ich hauptsächlich verwendet habe, um die Informationen über die "Kinder vom Bahnhof Zoo" zusammenzustellen. Die Sammlung ist unsortiert und unkommentiert, dient lediglich dazu, hier vollständig alls Links zu listen, die ich verwendet habe.

30 April 2005

Das Buch als PDF

Just gefunden: Doc Gonzo hat das Buch als PDF ins Web entlassen. – Da mittlerweile auch geahndet wird, Links auf Raubkopien zu legen oder Software, die Raubkopien ermöglicht, linke ich hier grober nur auf Marc Shiro. – Ja, ich gebe zu, man muss ein bisschen kombinieren und suchen, um das PDF zu finden; aber belangbar machen will ich mich mit diesem Hinweis hier auch nicht.

Der "Modus", in den der Film den Zuschauer versetzt, ist nicht "schockierend"

"Schockierend" ist das erste Wort, das einem einfällt, wenn man versucht, den Modus zu beschreiben, in den man von dem Film versetzt wird. – Aber auseinandergesetzt hat man sich, um dieses Wort zu finden, mit dem Film nicht. "Schockierend" klingt mir daher ähnlich hohl wie das um die Jahrhundertwende bis zum Exzess ausgewalzte "Betroffenheitsgehabe".

"Verstörend" ist meines Erachtens das richtige Wort.

29 April 2005

Der für den Film aufbereitete Zeitraum

Der Film zeigt Christiane im Alter von etwa 13 bis 14 (ca. 1975 – 1976). Nicht erst im Sound gerät sie an Drogen, sondern bereits mit 12 Jahren Valium eingenommen und in einem evangelischen Jugendheim Haschisch geraucht, in das Kerstin ("Kessi") sie mitgenommen hatte.

Im Film liest Christiane den Slogan des Sounds vor: "Sound – Europas modernste Diskothek". – Dieser Slogan scheint sich auf den ersten Blick auf die Ausstattung des Sounds zu beziehen: Als Kessi das erste Mal mit Christiane ins Sound geht und Christiane sie dabei beobachtet, wie sie Pillen weitergibt, kann man in der Scheibe hinter ihr ganz kurz ein Schild sehen, das vor Laser-Strahlen warnt. Heute in jedem CD-ROM-Laufwerk zu finden, war damals ein Laser eine – meiner Vermutung nach – absolute Rarität. Vermutlich war der Slogan in dieser Hinsicht nicht überzogen: Gut möglich, dass das Sound damals tatsächlich als einzige Diskothek in Europa mit einem Laser ausgestattet war. Modern war das Sound aber auch durch seine Musik: In der Musikszene setzte es Trends, und viele Gruppen wurden erst durch das Sound bekannt.

Dazu der Ausstattung mit einem Laser kamen die Unterhaltungsangebote, die auf dem Plakat im Film nicht so gut zu erkennen sind, dafür aber in der Bilddatei, die – in größerer Auflösung – diesem Plakat zugrunde gelegen haben mag: "Bordkino -+- Cafe Snack -+- Terrarium -+- Tee- und Weinstube -+- Zeichenecke -+- Milchbar -+- Visiothek -+- TV-Studio -+- Schallplattenbörse -+- Eisteria -+- Laser-Projektion -+- Nebelmaschinen -+- Billard". Eine der beiden Einrichtungen "Visiothek" und "TV-Studio" wird im "Volks"mund schlicht "der Fernsehraum" genannt.

Entgegen dem im Film vermittelten Eindruck befand sich das Sound in einem mehrgeschossigen Gebäude: oben drüber befinden sich Wohnungen. In der Einstellung, als Kessi und Christiane das erste Mal auf das Sound zugehen, kann man kurz einen schmalen Streifen dieser Appartements über dem Eingang erkennen. – Wenige Tage nach Erscheinen des Fils aufgenommene Fotos zeigen die ganze Fassade einschließlich der Wohnungen oberhalb des Eingangs zum Sound. – Möglicherweise wurde der Eingang nach dem oder für den Film geändert, denn im Film erscheint lediglich der Schriftzug "Sound", während die Fotos den Schriftzug "Diskothek Sound" zeigen. Auch wenn das Sound heute noch existiert, hat es mehrfach den Besitzer gewechselt. Nachdem die dortige Drogenszene bekannt geworden ist, durften im Sound eine zeitlang nichteinmal alkolische Getränke ausgeschenkt werden. – Das Sound lag an der Genthiner Straße (Nummer 26). 1988 gab es einen Brand im Sound, so dass es geschlossen wurde. Das neue Sound befindet sich in der Bismarckstraße.

Axel sitzt im Fernsehraum, als Christiane an die Scheibe klopft und nach Detlef fragt. Dieser Raum war in der Tat etwas Besonderes: Mehrere Fernseher liefen gleichzeitig und zeigten verschiedene Programme. An jedem Sitz gab es Anschlüsse, in die man (geliehene) Kopfhörer einstecken und den Tonkanal zu dem interessierenden Programm wählen konnte. (Damals gab es nur zirka acht Fernsehsender.) – Modern war das Sound, wie der damalige Pächter der Schallplattenbörse schreibt, auch dadurch, dass die Cover der jeweils aufgelegten Platten auf verschiedenen Monitoren angezeigt wurden, die im Sound verteilt waren. Dadurch war es für die Besucher ganz einfach die entsprechenden Scheiben im Plattenhandel oder auf der Plattenbörse zu finden. Zusätzlich bot das Sound einen Raum, in dem Besucher gerade gespielte Stücke auf Tonbänder mitschneiden konnten.

David Bowie, dessen Musik den Film unterlegt, wurde den damaligen Playlists des Sounds zufolge, vor allem 1975 im Sound gespielt: Juni '75 – Fame und November '75 – Golden Years von der Station to Station, die Christiane auch im Regal stehen hat. 1976 befindet sich der Künstler, ebenso wie Christiane (damals 14), in Berlin, so dass zweifelhaft erscheint, ob die Film-Aussage "David Bowie kommt nach Berlin" originalgetreu ist: Wenn Bowie in Berlin war – und dieser Umstand allgemein bekannt –, dann hatte Christiane keinen Anlass, von "kommt nach" zu sprechen.


Nachdem Christiane die vermeintliche Überdosis hinter sich hat, greift ihr Vater zu drakonischen Maßnahmen, um Christiane von der Drogensucht los zu bekommen. So sperrt er sie unter anderem mehrere Tage lang in einer elterlichen Wohnung ein. (Aus der Quelle geht nicht hervor, ob es sich dabei um seine Wohnung handelt oder um die von Christianes Mutter; doch das Buch, verrät, dass es sich um seine Wohnung in der 11. Etage handelt.) Später bringt die Mutter Christiane in den Westen.

Christiane im Westen

Am 13. November 1977 wird Christiane von ihrer Mutter in den Westen gebracht. In einem Dorf der Nähe von Hamburg besucht Christiane nun die Realschule (9. Klasse). Während sie sich dort gut einlebt, bekommt ihr Direx spitz, dass sie eine Drogen"karriere" hinter sich hat. Christiane wird der Schule verwiesen. In dieser Situation bleibt ihr nichts anderes übrig, als die Hauptschule zu besuchen. – Mitte der 80er-Jahre bedeutete der Wechsel vom Gymnasium oder der Realschule auf die Hauptschule einen enormen gesellschaftlichen Abstieg, Betroffene wurden stigmatisiert. Ich vermute, dass es zehn Jahre früher genauso war.

Nach dem Hauptschulabschluss findet Christiane zunächst keine Lehrstelle, erhält lediglich Aushilfsjobs. Erst nach dem Erfolg ihres Buches erhält sie unter Protektion (d.h. durch "Beziehungen") eine Lehrstelle im Buchhandel. Die Quellen, die ich gefunden habe, gehen in der Bezeichnung des Berufes auseinander: Buchhalterin versus Buchhändlerin. Die Bezeichnung "Buchhalterin" ("Book Keeper") stammt aus einer – meiner Einschätzung nach – schlechten Übersetzung eines anscheinend im Original deutschsprachigen Zeitungsartikels, in dem von "Buchhändlerin" die Rede ist. Ein anderer englischsprachiger Artikel spricht von "Accounting" (Buchführung). Ich halte jedoch für möglich, dass sich letztgenannter Artikel in diesem Punkt auf erstgenannten stützt, denn der eingangs genannte Artikel erwähnt zudem, dass Christiane von "ihrer" Filiale einer Buchhandelskette in die in Hamburg wechselt.

Christiane bricht die Lehre ab, weil sie eine – meines Wissens – häufige Auszubildenden- und Praktikanten-Erfahrung macht: Sie wird ausgenutzt. Sie sagt selbst: In einem halben Jahr lernt sie alles, was sie wissen muss, und dann wird sie ausgebeutet.

Der Kontakt Christianes zur Presse ergibt sich 1978.

Anfang 1978 plant das Hamburger Magazin "Stern" einen Artikel über die Straßenkinder. Zeitgleich arbeitet bereits der Berliner Journalist Horst Rieck für dasselbe Magazin an einer Reportage über Kinderprostituiton.

In Berlin-Moabit läuft zu dieser Zeit ein Strafverfahren gegen einen 55-jährigen Schreibwarenhändler, der sich u.a. 13-jährige Mädchen mittels Heroin gefügig gemacht hat. Rieck besucht den Prozess am 7. Februar 1978 und begegnet vor dem Gerichtssaal Christiane F. Sie ist jetzt 15 Jahre alt und tritt in dem Verfahren als Zeugin auf.


Ich frage mich, ob eines dieser Mädchen Babsi war, so dass letztlich Babsi es war, die alles überhaupt erst ins Rollen gebracht hat.

28 April 2005

Eindrücke der Vorgeschichte

Über Christianes Geburtsort gibt es im Web unterschiedliche Aussagen: Die englischsprachige Wikipedia nennt West-Berlin als Geburtsort. Eine andere, in Kalifornien gespeicherte deutschsprachige Quelle weist als Geburtsort eine norddeutsche Kleinstadt aus. Übereinstimmend nennen mehrere Quellen "das Land" als Christianes Wohnort, ehe sie mit sechs Jahren nach Berlin umzieht. "Auf dem Land" impliziert für die damalige Zeit: außerhalb von Berlin, ergo auch weit weg von Berlin – im Westen. Denn für Menschen aus der DDR oder der Sowjetunion bestand damals nicht die Möglichkeit, "mal eben" nach (West-)Berlin – und damit implizit: in den freien Westen (Link) – zu reisen, geschweige denn umzuziehen; geschweige denn, dass "kleine Leute" das konnten.

Ab ihrem 6. Lebensjahr wohnt Christiane in Berlin Gropiusstadt, also seit 1968. Gropiusstadt wurde vor 1960 als Wohnsiedlung zwischen Buckow und Rudow geplant und ab 1963 – jedoch nicht in der ursprünglichen Form – gebaut. Im Jahre 1975 bot Gropiusstadt mit 19 400 Wohnungen Wohnraum für rund 37 000 Menschen. Gropiusstadt ist erst fünf Jahre alt, als Christianes Familie dort einzieht. Bezeichnend finde ich, dass Gropiusstadt bereits knapp zehn Jahre nach dem Aufbau (^Filmanfang!) so heruntergekommen ist, wie Christiane beschreibt.

Gropiusstadt wurde offenbar als Schlafstadt konzipiert. Cottbusser Städtebau-Studenten nahmen sich Mitte 2000 des "Problemviertels" an, stellten dabei aber fest, dass die aktuelle Situation weit von der in dem Film beschriebenen entfernt ist.

Berufliche Umstände des Vaters waren der Grund für den Umzug der Felscherinows nach Berlin. Im Film tritt dies gar nicht so deutlich hervor: Christiane wächst auf dem Land auf, zieht dann nach Berlin – verliert dadurch ihren Freundeskreis, ihr vertrautes soziales Umfeld, die Gegend, in der sie sich auskennt. Das Berlin der damaligen Zeit stelle ich mir wie ein Gefängnis vor: zwar noch drei- oder fünfmal so groß wie Köln – aber ringsum unüberwindliche Grenze. Mal eben woandershin zu reisen? – Ist nicht drin: Raus kommt man, so schätze ich das ein, nur mit dem Flugzeug. Flüge gab es damals aber nicht, so wie heute, fast geschenkt für 20 Euro. Stattdessen ging ein einzelner Flug in die Hunderte DM. – Für Christianes Mutter/Eltern muss eine enorme finanzielle Belastung gewesen sein, Christiane in den Westen zu bringen: zwei Flüge Berlin—Hamburg, einer zurück.

Dann verlässt auch noch der Vater die Familie. Der Film setzt erst ein, als der Vater bereits nicht mehr zur Familie gehört. Er lässt offen, ob die Trennung erst Monate oder schon Jahre zurückliegt, oder gar gleich nach dem Eintreffen in Berlin stattgefunden hat. Das Gewicht, das in Christianes Worten "Hast du vergesssen, was Vati alles angestellt hat?" liegt, wird nicht deutlich: Die Vorgeschichte bleibt im Film völlig unerwähnt.

Dass Christiane nicht passt, dass ihre Mutter jetzt einen Freund hat, ist im Film nicht zu übersehen. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich diese Aversion nicht erst im dargestellten Zeitraum entwickelt, sondern bereits zuvor bestanden hat: Christiane spricht mit Sabine darüber wie über ein altes, ihnen beiden bekanntes, Problem. – In diese Situation hinein stürzt dann noch, dass Sabine weggeht.

Fragen, die der Film aufwirft

Der Film hat einige Fragen aufgeworfen: Welche Rolle spielt David Bowie in Bezug auf den Film? Hat er ihn gesponsort? Oder kennt er ihn gar nicht? Wie war es möglich, dass der Film überhaupt entstanden ist? Wie ist, nachdem ihre Eltern Christiane in den Westen ausquartiert hatten, die Grundlage für den Film entstanden? Wie kam der Kontakt mit wem zustande? Was passierte danach? Wie kam es zu dem Film? Und ...

"unveröffentlichte Photos aus der damaligen Reportage"

Die Seite von Jürgen Müller-Schneck, auf der er "Originalbilder und unveröffentlichte Photos aus der damaligen Reportage" (zu einem für Privatpersonen stolzen Preis von € 10 je Bild) feil bietet, ist eine der ersten, die ich gefunden habe.


Nervtötend ist die sich stetig bewegende Werbung in der Statuszeile, die darauf hinweist, dass man auf der Seite Bilder herunterladen kann. – Ein Grund dafür, diese Seite möglichst schnell wieder zu verlassen; so wichtig ist mir das Thema dann auch wieder nicht, dass ich 30 Euro für drei Fotos ausgeben will.

Christiane Vera Felscherinow – Die Kinder vom Bahnhof Zoo

Dieses Blog hier ist als reine Linksammlung gedacht. Ich habe jetzt eine Woche drangesessen, die Infos zusammenzutragen, um meinen Wissensdurst einigermaßen zu stillen. Jetzt interessieren mich eigentlich nur noch die originalen Stern-Artikel.

Es ist schön, dass all die Infos im Web gratis zu finden sind. Deswegen will ich ein klein wenig davon zurück geben, indem ich hier die Links veröffentliche, die ich in den vergangenen Tagen gespeichert habe.

Da ich diesen Blog in der Rückschau zusammentrage, kann es vorkommen, dass die Einträge hier nicht immer kausal erscheinen. Zum Beispiel habe ich mir die Fragen gestellt, ehe ich zu recherchieren angefangen habe.