Christiane F. – Die Kinder vom Bahnhof Zoo

Nachdem ich vor vielleicht zwanzig Jahren, als ich noch TV geguckt habe, mal in "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" reingezappt hatte, fand ich an der Zeit, den Film jetzt nochmal anzusehen. Ich hatte nicht erwartet, dass der so "reinknallen" würde. "Schockierend" trifft es meiner Meinung nach nicht.

Ich wollte die Hintergründe kennen.

30 April 2005

Das Buch als PDF

Just gefunden: Doc Gonzo hat das Buch als PDF ins Web entlassen. – Da mittlerweile auch geahndet wird, Links auf Raubkopien zu legen oder Software, die Raubkopien ermöglicht, linke ich hier grober nur auf Marc Shiro. – Ja, ich gebe zu, man muss ein bisschen kombinieren und suchen, um das PDF zu finden; aber belangbar machen will ich mich mit diesem Hinweis hier auch nicht.

Der "Modus", in den der Film den Zuschauer versetzt, ist nicht "schockierend"

"Schockierend" ist das erste Wort, das einem einfällt, wenn man versucht, den Modus zu beschreiben, in den man von dem Film versetzt wird. – Aber auseinandergesetzt hat man sich, um dieses Wort zu finden, mit dem Film nicht. "Schockierend" klingt mir daher ähnlich hohl wie das um die Jahrhundertwende bis zum Exzess ausgewalzte "Betroffenheitsgehabe".

"Verstörend" ist meines Erachtens das richtige Wort.

29 April 2005

Der für den Film aufbereitete Zeitraum

Der Film zeigt Christiane im Alter von etwa 13 bis 14 (ca. 1975 – 1976). Nicht erst im Sound gerät sie an Drogen, sondern bereits mit 12 Jahren Valium eingenommen und in einem evangelischen Jugendheim Haschisch geraucht, in das Kerstin ("Kessi") sie mitgenommen hatte.

Im Film liest Christiane den Slogan des Sounds vor: "Sound – Europas modernste Diskothek". – Dieser Slogan scheint sich auf den ersten Blick auf die Ausstattung des Sounds zu beziehen: Als Kessi das erste Mal mit Christiane ins Sound geht und Christiane sie dabei beobachtet, wie sie Pillen weitergibt, kann man in der Scheibe hinter ihr ganz kurz ein Schild sehen, das vor Laser-Strahlen warnt. Heute in jedem CD-ROM-Laufwerk zu finden, war damals ein Laser eine – meiner Vermutung nach – absolute Rarität. Vermutlich war der Slogan in dieser Hinsicht nicht überzogen: Gut möglich, dass das Sound damals tatsächlich als einzige Diskothek in Europa mit einem Laser ausgestattet war. Modern war das Sound aber auch durch seine Musik: In der Musikszene setzte es Trends, und viele Gruppen wurden erst durch das Sound bekannt.

Dazu der Ausstattung mit einem Laser kamen die Unterhaltungsangebote, die auf dem Plakat im Film nicht so gut zu erkennen sind, dafür aber in der Bilddatei, die – in größerer Auflösung – diesem Plakat zugrunde gelegen haben mag: "Bordkino -+- Cafe Snack -+- Terrarium -+- Tee- und Weinstube -+- Zeichenecke -+- Milchbar -+- Visiothek -+- TV-Studio -+- Schallplattenbörse -+- Eisteria -+- Laser-Projektion -+- Nebelmaschinen -+- Billard". Eine der beiden Einrichtungen "Visiothek" und "TV-Studio" wird im "Volks"mund schlicht "der Fernsehraum" genannt.

Entgegen dem im Film vermittelten Eindruck befand sich das Sound in einem mehrgeschossigen Gebäude: oben drüber befinden sich Wohnungen. In der Einstellung, als Kessi und Christiane das erste Mal auf das Sound zugehen, kann man kurz einen schmalen Streifen dieser Appartements über dem Eingang erkennen. – Wenige Tage nach Erscheinen des Fils aufgenommene Fotos zeigen die ganze Fassade einschließlich der Wohnungen oberhalb des Eingangs zum Sound. – Möglicherweise wurde der Eingang nach dem oder für den Film geändert, denn im Film erscheint lediglich der Schriftzug "Sound", während die Fotos den Schriftzug "Diskothek Sound" zeigen. Auch wenn das Sound heute noch existiert, hat es mehrfach den Besitzer gewechselt. Nachdem die dortige Drogenszene bekannt geworden ist, durften im Sound eine zeitlang nichteinmal alkolische Getränke ausgeschenkt werden. – Das Sound lag an der Genthiner Straße (Nummer 26). 1988 gab es einen Brand im Sound, so dass es geschlossen wurde. Das neue Sound befindet sich in der Bismarckstraße.

Axel sitzt im Fernsehraum, als Christiane an die Scheibe klopft und nach Detlef fragt. Dieser Raum war in der Tat etwas Besonderes: Mehrere Fernseher liefen gleichzeitig und zeigten verschiedene Programme. An jedem Sitz gab es Anschlüsse, in die man (geliehene) Kopfhörer einstecken und den Tonkanal zu dem interessierenden Programm wählen konnte. (Damals gab es nur zirka acht Fernsehsender.) – Modern war das Sound, wie der damalige Pächter der Schallplattenbörse schreibt, auch dadurch, dass die Cover der jeweils aufgelegten Platten auf verschiedenen Monitoren angezeigt wurden, die im Sound verteilt waren. Dadurch war es für die Besucher ganz einfach die entsprechenden Scheiben im Plattenhandel oder auf der Plattenbörse zu finden. Zusätzlich bot das Sound einen Raum, in dem Besucher gerade gespielte Stücke auf Tonbänder mitschneiden konnten.

David Bowie, dessen Musik den Film unterlegt, wurde den damaligen Playlists des Sounds zufolge, vor allem 1975 im Sound gespielt: Juni '75 – Fame und November '75 – Golden Years von der Station to Station, die Christiane auch im Regal stehen hat. 1976 befindet sich der Künstler, ebenso wie Christiane (damals 14), in Berlin, so dass zweifelhaft erscheint, ob die Film-Aussage "David Bowie kommt nach Berlin" originalgetreu ist: Wenn Bowie in Berlin war – und dieser Umstand allgemein bekannt –, dann hatte Christiane keinen Anlass, von "kommt nach" zu sprechen.


Nachdem Christiane die vermeintliche Überdosis hinter sich hat, greift ihr Vater zu drakonischen Maßnahmen, um Christiane von der Drogensucht los zu bekommen. So sperrt er sie unter anderem mehrere Tage lang in einer elterlichen Wohnung ein. (Aus der Quelle geht nicht hervor, ob es sich dabei um seine Wohnung handelt oder um die von Christianes Mutter; doch das Buch, verrät, dass es sich um seine Wohnung in der 11. Etage handelt.) Später bringt die Mutter Christiane in den Westen.

Christiane im Westen

Am 13. November 1977 wird Christiane von ihrer Mutter in den Westen gebracht. In einem Dorf der Nähe von Hamburg besucht Christiane nun die Realschule (9. Klasse). Während sie sich dort gut einlebt, bekommt ihr Direx spitz, dass sie eine Drogen"karriere" hinter sich hat. Christiane wird der Schule verwiesen. In dieser Situation bleibt ihr nichts anderes übrig, als die Hauptschule zu besuchen. – Mitte der 80er-Jahre bedeutete der Wechsel vom Gymnasium oder der Realschule auf die Hauptschule einen enormen gesellschaftlichen Abstieg, Betroffene wurden stigmatisiert. Ich vermute, dass es zehn Jahre früher genauso war.

Nach dem Hauptschulabschluss findet Christiane zunächst keine Lehrstelle, erhält lediglich Aushilfsjobs. Erst nach dem Erfolg ihres Buches erhält sie unter Protektion (d.h. durch "Beziehungen") eine Lehrstelle im Buchhandel. Die Quellen, die ich gefunden habe, gehen in der Bezeichnung des Berufes auseinander: Buchhalterin versus Buchhändlerin. Die Bezeichnung "Buchhalterin" ("Book Keeper") stammt aus einer – meiner Einschätzung nach – schlechten Übersetzung eines anscheinend im Original deutschsprachigen Zeitungsartikels, in dem von "Buchhändlerin" die Rede ist. Ein anderer englischsprachiger Artikel spricht von "Accounting" (Buchführung). Ich halte jedoch für möglich, dass sich letztgenannter Artikel in diesem Punkt auf erstgenannten stützt, denn der eingangs genannte Artikel erwähnt zudem, dass Christiane von "ihrer" Filiale einer Buchhandelskette in die in Hamburg wechselt.

Christiane bricht die Lehre ab, weil sie eine – meines Wissens – häufige Auszubildenden- und Praktikanten-Erfahrung macht: Sie wird ausgenutzt. Sie sagt selbst: In einem halben Jahr lernt sie alles, was sie wissen muss, und dann wird sie ausgebeutet.

Der Kontakt Christianes zur Presse ergibt sich 1978.

Anfang 1978 plant das Hamburger Magazin "Stern" einen Artikel über die Straßenkinder. Zeitgleich arbeitet bereits der Berliner Journalist Horst Rieck für dasselbe Magazin an einer Reportage über Kinderprostituiton.

In Berlin-Moabit läuft zu dieser Zeit ein Strafverfahren gegen einen 55-jährigen Schreibwarenhändler, der sich u.a. 13-jährige Mädchen mittels Heroin gefügig gemacht hat. Rieck besucht den Prozess am 7. Februar 1978 und begegnet vor dem Gerichtssaal Christiane F. Sie ist jetzt 15 Jahre alt und tritt in dem Verfahren als Zeugin auf.


Ich frage mich, ob eines dieser Mädchen Babsi war, so dass letztlich Babsi es war, die alles überhaupt erst ins Rollen gebracht hat.

28 April 2005

Eindrücke der Vorgeschichte

Über Christianes Geburtsort gibt es im Web unterschiedliche Aussagen: Die englischsprachige Wikipedia nennt West-Berlin als Geburtsort. Eine andere, in Kalifornien gespeicherte deutschsprachige Quelle weist als Geburtsort eine norddeutsche Kleinstadt aus. Übereinstimmend nennen mehrere Quellen "das Land" als Christianes Wohnort, ehe sie mit sechs Jahren nach Berlin umzieht. "Auf dem Land" impliziert für die damalige Zeit: außerhalb von Berlin, ergo auch weit weg von Berlin – im Westen. Denn für Menschen aus der DDR oder der Sowjetunion bestand damals nicht die Möglichkeit, "mal eben" nach (West-)Berlin – und damit implizit: in den freien Westen (Link) – zu reisen, geschweige denn umzuziehen; geschweige denn, dass "kleine Leute" das konnten.

Ab ihrem 6. Lebensjahr wohnt Christiane in Berlin Gropiusstadt, also seit 1968. Gropiusstadt wurde vor 1960 als Wohnsiedlung zwischen Buckow und Rudow geplant und ab 1963 – jedoch nicht in der ursprünglichen Form – gebaut. Im Jahre 1975 bot Gropiusstadt mit 19 400 Wohnungen Wohnraum für rund 37 000 Menschen. Gropiusstadt ist erst fünf Jahre alt, als Christianes Familie dort einzieht. Bezeichnend finde ich, dass Gropiusstadt bereits knapp zehn Jahre nach dem Aufbau (^Filmanfang!) so heruntergekommen ist, wie Christiane beschreibt.

Gropiusstadt wurde offenbar als Schlafstadt konzipiert. Cottbusser Städtebau-Studenten nahmen sich Mitte 2000 des "Problemviertels" an, stellten dabei aber fest, dass die aktuelle Situation weit von der in dem Film beschriebenen entfernt ist.

Berufliche Umstände des Vaters waren der Grund für den Umzug der Felscherinows nach Berlin. Im Film tritt dies gar nicht so deutlich hervor: Christiane wächst auf dem Land auf, zieht dann nach Berlin – verliert dadurch ihren Freundeskreis, ihr vertrautes soziales Umfeld, die Gegend, in der sie sich auskennt. Das Berlin der damaligen Zeit stelle ich mir wie ein Gefängnis vor: zwar noch drei- oder fünfmal so groß wie Köln – aber ringsum unüberwindliche Grenze. Mal eben woandershin zu reisen? – Ist nicht drin: Raus kommt man, so schätze ich das ein, nur mit dem Flugzeug. Flüge gab es damals aber nicht, so wie heute, fast geschenkt für 20 Euro. Stattdessen ging ein einzelner Flug in die Hunderte DM. – Für Christianes Mutter/Eltern muss eine enorme finanzielle Belastung gewesen sein, Christiane in den Westen zu bringen: zwei Flüge Berlin—Hamburg, einer zurück.

Dann verlässt auch noch der Vater die Familie. Der Film setzt erst ein, als der Vater bereits nicht mehr zur Familie gehört. Er lässt offen, ob die Trennung erst Monate oder schon Jahre zurückliegt, oder gar gleich nach dem Eintreffen in Berlin stattgefunden hat. Das Gewicht, das in Christianes Worten "Hast du vergesssen, was Vati alles angestellt hat?" liegt, wird nicht deutlich: Die Vorgeschichte bleibt im Film völlig unerwähnt.

Dass Christiane nicht passt, dass ihre Mutter jetzt einen Freund hat, ist im Film nicht zu übersehen. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich diese Aversion nicht erst im dargestellten Zeitraum entwickelt, sondern bereits zuvor bestanden hat: Christiane spricht mit Sabine darüber wie über ein altes, ihnen beiden bekanntes, Problem. – In diese Situation hinein stürzt dann noch, dass Sabine weggeht.

Fragen, die der Film aufwirft

Der Film hat einige Fragen aufgeworfen: Welche Rolle spielt David Bowie in Bezug auf den Film? Hat er ihn gesponsort? Oder kennt er ihn gar nicht? Wie war es möglich, dass der Film überhaupt entstanden ist? Wie ist, nachdem ihre Eltern Christiane in den Westen ausquartiert hatten, die Grundlage für den Film entstanden? Wie kam der Kontakt mit wem zustande? Was passierte danach? Wie kam es zu dem Film? Und ...

"unveröffentlichte Photos aus der damaligen Reportage"

Die Seite von Jürgen Müller-Schneck, auf der er "Originalbilder und unveröffentlichte Photos aus der damaligen Reportage" (zu einem für Privatpersonen stolzen Preis von € 10 je Bild) feil bietet, ist eine der ersten, die ich gefunden habe.


Nervtötend ist die sich stetig bewegende Werbung in der Statuszeile, die darauf hinweist, dass man auf der Seite Bilder herunterladen kann. – Ein Grund dafür, diese Seite möglichst schnell wieder zu verlassen; so wichtig ist mir das Thema dann auch wieder nicht, dass ich 30 Euro für drei Fotos ausgeben will.

Christiane Vera Felscherinow – Die Kinder vom Bahnhof Zoo

Dieses Blog hier ist als reine Linksammlung gedacht. Ich habe jetzt eine Woche drangesessen, die Infos zusammenzutragen, um meinen Wissensdurst einigermaßen zu stillen. Jetzt interessieren mich eigentlich nur noch die originalen Stern-Artikel.

Es ist schön, dass all die Infos im Web gratis zu finden sind. Deswegen will ich ein klein wenig davon zurück geben, indem ich hier die Links veröffentliche, die ich in den vergangenen Tagen gespeichert habe.

Da ich diesen Blog in der Rückschau zusammentrage, kann es vorkommen, dass die Einträge hier nicht immer kausal erscheinen. Zum Beispiel habe ich mir die Fragen gestellt, ehe ich zu recherchieren angefangen habe.